Montag, 20. April 2009

Paradis und Fall

Das Paradies - und der Fall aus dem Garten Genesis 2 u.3


Liebe Gemeinde,

einmal erschien zu Pfingsten ein Spiegel mit dem Titelthema „Das Paradies“.
Demnach behaupten einige Forscher neuerdings, dass es in ältester Vorzeit im kurdischen Bereich des Irak eine Art paradiesischer Kultur gegeben haben müsse. Die Menschen hätten dort große Tempelanlagen gebaut und von geradezu unerschöpflichen wilden Tierbeständen gelebt. Dann sei durch einen Klimawandel und durch Erschöpfung der Tierbestände an die Stelle des Paradieses eine Ackerbaukultur getreten, die von mühsamer Arbeit geprägt gewesen sei. Spuren dieser Zustände und Ereignisse hätten sich im biblischen Bericht vom „Garten Eden“ erhalten.
Das Paradies war also demnach eine Art Schlaraffenland, in dem den Menschen der gebratene Ochsen in den Mund fiel.

Wenn Familien bei IKEA einkaufen gehen, können sie die Kinder im „Kinderparadies“ abgeben, um sorglos und störungsfrei aussuchen und einkaufen zu können.
Das Paradies ist also dort eine Art Spielgarten.

Vor kurzem bekam ich einen Stereo-Viewer geschenkt. Durch eine besondere Folie kann man dreidimensional in eine paradiesische Karibikkulisse hineinschauen: türkisfarbenes Meer, weißer Sand, Palmen und zwei Liegestühle, die aufs Meer und in den blauen Himmel schauen lassen.
So malt uns eine Tourismusindustrie das Urlaubsparadies.

Daneben gibt es auch noch das Steuerparadies, das keine Abgaben oder sonstige unangenehmen Verpflichtungen kennt. Ein Paradies, das neuerdings ins Gerede gekommen ist.

Von welchem Paradies spricht eigentlich die Bibel? Und was sagt uns die biblische Vorstellung vom Paradies über den Menschen?
Alle Fragen, die mit dem Paradies zusammenhängen, gehören zu den Urfragen der Menschheit.

Menschheit!
Adam und Eva sind nicht historische Einzelpersonen, sondern sie sind die Menschen schlechthin. Was diese beiden erleben, erleben alle zu jeder Zeit. Also auch ein jeder von uns.

Die Bibel erzählt nun, dass Gott den Menschen einen Garten gegeben habe. Dieses Wort „Garten“ würde in der griechischen Übersetzung der Bibel mit dem altiranischen Wort „Paradies“ wiedergegeben.
Der Paradiesgarten bestand aus einem umzäunten Raum. Es war ein beschützter und beschützender Bereich. Das Wort „Gart“ ist mit den Wörtern Gürtel und Gurt verwand. Garten ist also ein zusammenhaltender, behütender Raum. So etwas wie ein Gürtel Gottes, oder auch eine hohle Hand Gottes.
„Gart“ taucht auch in vielen Frauennamen auf, wie Irmgard, Hildegard oder Friedgart etc.
Vielleicht können wir deshalb auch sagen, dass es in diesem Garten wie in weiblich-mütterlicher Obhut war. Alles stand in Übereinstimmung. Es war ein Raum, der Heimat und Geborgenheit vermittelte – und das nicht nur äußerlich, sondern auch bewusstseinsmäßig, innerlich.
Dieser Garten war die ganze Welt, soweit der Horizont reichte.
Er hatte eine Mitte, von der aus vier Flüsse wie Weltachsen in die vier Himmelsrichtungen ausströmten.
In der Mitte aber stand ein Baum.

Dieses dargelegte Bild ist eine mythisch-kultische Konstruktion, die ganz wesentlich für die Menschen ist. Es ist von einer mythischen Kartographie, die zugleich eine seelische Kartographie des Menschen abbildet.

Wenn die alten Völker, z.B. die Etrusker, eine Stadt gründeten, suchten sie zuerst eine Mitte. Dort in der Mitte dachte man sich die vertikale Weltachse, die Himmel und Erde und sogar auch noch die Unterwelt miteinander verband. Dort war die Erde wie an einer Nabelschnur mit dem Himmel verbunden. In dieser Mitte stand der Weltenbaum oder Lebensbaum, der im Stamm Himmel und Erde zusammenhielt und in dessen Krone sich der Himmel verfing.
Von dieser Mitte gingen die vier horizontalen Weltachsen aus, die die Stadttore und die vier Himmelsrichtungen bestimmten.

Die Mitte war unverfügbar. Sie war die Voraussetzung für jedes Leben. Von ihr aus lebte der Mensch. Diese Bindung gab seinem Lebensraum erst Bestand. So ermöglichte sie das Leben. Die Mitte war ein mythischer, symbolischer Ort.

Ein solches Denken bestimmt auch den biblischen Text vom Garten Eden. Wir verstehen jetzt, warum Adam und Eva alle anderen Bäume und Früchte im Garten berühren und essen durften, aber diesen einen in der Mitte, der zwei Namen trägt – Baum des Lebens und Baum der Erkenntnis – nicht. An diesem Baum war Tod und Leben geknüpft. Dieses Unverfügbare sollten sie nicht in die Hand nehmen. Das sollten sie sich nicht einverleiben, weil es eben draußen, als Vorgängiges, als Voraussetzung des Lebens bestehen bleiben musste. Es war das Gesetz des Lebens, das zu respektieren war, wenn man mit Gott und der Welt in Übereinstimmung leben wollte.

Dieses „ auf eine Mitte ausgerichtet sein“ ist also etwas schöpfungsgemäßes. Es bedeutet, dass es eine heilige, unverfügbare Mitte geben muss, die wir ein Leben lang suchen. Wir möchten den Kern von allem finden und das, was alles zusammenhält.
Selbst die Galaxien rotieren noch um ein schwarzes Loch in der Mitte. Auch diese Mitte ist unverfügbar, unberührbar. Jeder Zugriff würde in ihr verbrennen, er wird verschluckt.
Nicht wir nehmen die Mitte in unsere Hand, sondern sie uns. Unter ihren Bedingungen haben wir zu leben. Wir haben der Mitte nichts vorzuschreiben.

Die Mitte, der Kern alles dessen, was ist, ist gewissermaßen auch das Tor zum Jenseitigen, zur Transzendenz. Diese vorausgesetzte Mitte finden wir tatsächlich in allem. Nicht nur im Großen, im Kosmos oder im Sonnensystem, sondern auch im Kleinsten, im Feinsten, in dem, was gar nicht mehr stofflich ist. Wir finden sie gerade in der Psyche, in der Seele.
Jeder Mensch besitzt eine unverfügbare Mitte, ein Herz, auf das hin er gespannt ist, und in dem ihm Gott näher ist, als er sich selbst je sein könnte.
Wehe, man verletzt die Mitte eines Menschen! Wenn man ihn ins Herz trifft, tötet man ihn, seelisch.

Auch jede Beziehung zwischen Menschen hat eine solche Mitte. Die Menschen sind als Beziehungswesen geschaffen. Es sind zumindest immer zwei: Adam und Eva. Die Mitte ist das Unverfügbare im anderen, die unverfügbar sich auch in der Beziehung abbildet, wenn diese eine wirkliche Beziehung und eine lebendige sein soll. Die Unverfügbarkeit macht die Beziehung reizvoll.
Alles Verfügbarmachenwollen ist nur Bemächtigung und zerstört letztendlich.

Wir verstehen jetzt, warum Gott verboten hat, die Mitte des Gartens anzutasten. Es ist kein autoritäres Verbot, das dem Menschen das Schönste vorenthalten will. Gott will sich keine überlegene Macht sichern oder den Menschen abhängig und unmündig halten. Solche Kategorien von Über- u. Unterlegenheit sind noch gar nicht denkbar.
Es ist die Struktur der Wirklichkeit, der Schöpfung, die hier geschützt wird. Unsere eigene Voraussetzung sollen wir nicht in die Hand nehmen, wir sollen sie– mental und haptisch - nicht begreifen oder uns gar selbst einverleiben wollen. Sie bleibt uns vorausgesetzt Wir zerstören uns selber, wenn wir das Unverfügbare zerstören, indem wir es einholen wollen. Leben oder Tod – es hängt davon ab, ob das Unverfügbare als solches geachtet bleibt.


Die Menschen haben nun aber doch an die Mitte gerührt. Und sie tun es noch und immer wieder. Der Mensch ist haptisch. Es reizt uns, alles in die Hand nehmen zu wollen: auch Gott, auch das Nichts oder die Leere, die jedem Sein eingezeichnet ist und es oft erst mit Sinn erfüllt - wie das Loch, oder den Topf, wie die Tür oder das Rad -, auch die schwarzen Löcher des Kosmos, die diesen erst konstituieren, auch das Verborgene und Geheimnisvolle in der Seele, auch das Leben und den Tod, auch die Quelle des Lebens, die Weltachse, den Lebensbaum, die Nabelschnur. Wir wollen alles wissen, das ganze Wissen haben, Gut und Böse – was additiv nur ein anderer Ausdruck für „alles“ ist. Wenn wir Gut und Böse wirklich unterscheiden und scheiden und das Böse als Böses etikettieren, sind wir in einem rein quantitativen Sinn tatsächlich weiser geworden als wenn wir alles nur als „gut“ begreifen, wie es das Schöpfungsurteil Gottes vorgesehen hatte. Was das allerdings bedeutet, in diesem Sinne weise zu sein, zeigt uns die Bibel an einem drastischen Beispiel:
Die Menschen waren nackt, bevor sie die Mitte berührten – und es war gut so. Jedenfalls hören wir es nicht anders. Nachdem sie allerdings die Mitte berührt hatten, war das Gleiche nicht mehr „nur“ gut. Es war auch böse. Es war ambivalent geworden. Und sie schämten sich – ein bislang unbekanntes Gefühl. Und sie versteckten sich – ein bislang unbekannter Ort. Sie „wussten“ das alles. Sie kannten jetzt „das Ganze“. Sie wussten jetzt mehr als vorher,- aber war das Wissen noch gut? Tat es ihnen gut? Die Erfahrung dieses neu erworbenen Wissens ist immer bitter, sie ist selber böse.

Die Bibel redet von diesem grenzüberschreitenden Tun übrigens nicht als Sünde. Es ist Ungehorsam gegenüber Gott und zugleich Ungehorsam gegenüber sich selbst, gegenüber dem Charakter des Menschen, der sich selbst begrenzen sollte, wie sich Gott in seiner Schöpfung selbst begrenzt hat. Es ist keine Sünde im moralischen Sinn, es ist die Grundabständigkeit von Gott, anders eben als Gott selbst ist. Auch ist die Sünde nicht durch dieses Tun gewissermaßen magisch auf alle Folgenden vererbt worden. Wohl aber wird diese Grundabständigkeit von allen Folgenden ebenfalls vollzogen. Ein jeder, eine jede versucht die empfindliche und fragile Mitte zu berühren. Der mythische Text der Bibel will aber die Existenz des Menschen erhellen helfen und die sich daraus ergebenden Fragen der Menschen beantworten: Warum ist der Mensch und das menschliche Leben so tragisch und tödlich begrenzt? Warum folgt aus der versäumten Selbstbegrenzung eine Verfehlung des ganzen Lebens, warum entstehen Mühe und Leid und Tod? Warum ist der Garten verschlossen und warum findet sich nur ein verschlossenes Feld der Erde vor?
Die Antwort lautet: Weil der Mensch an die Mitte rührt. Weil er sie sich verfügbar machen will, statt sie verfügen zu lassen. Er weiß jetzt das Ganze und er will es wissen, aber er muss es jetzt auch tragen. Das Leben selbst ist ambivalent geworden. Auch unter dem Guten steckt das Böse. Eine zweite Ebene ist aufgetan, die Last und mühsame Aufgabe ist und bleibt.

Die Menschen haben an die Mitte gerührt und sie rühren weiter an sie auf verhängnisvolle Weise. Die Menschen machen sich Menschen in Beziehungen verfügbar, die diese Bezeichnung nicht verdienen. Sie ziehen Gott in ihre Verfügbarkeit, indem sie vor allem selbst an seine Stelle treten. Sie respektieren das Heilige nicht, lösen die Mitte in lauter Relativismen auf. Sie holzen den Baum des Lebens ab und plündern ihn. Sie unterscheiden nicht mehr nur Gut und Böse, sie erklären selbst, was gut und was böse ist.
Und immer noch verlieren sie deshalb das Paradies, wenn sie es auch noch so sehr suchen und ersehnen. Sie erschaffen sich deshalb aus Not und Orientierungslosigkeit Ersatzparadiese: Schlaraffenländer, in denen man alles umsonst bekommt wie im Kurdistan der Vorzeit. Im Garten Eden aber arbeitete der Mensch. Er lebte auch nicht von getöteten Tieren. Er bebaute und bewahrte, und vielleicht war ja gerade das das Paradies, dass man sinnvoll arbeiten konnte, weil man in der Arbeit die Schöpfung bewahrte, indem man ihre Mitte, ihre Voraussetzungen achtete.
Oder man errichtet Kinderparadiese wie bei Ikea, obwohl dort kein Kind lange bleiben will. Die Kinder spüren, dass sie um eines Kaufinteresses willen manipuliert werden sollen.
Und die Urlaubsparadiese? Meistens sehen die Menschen nach einem Aufenthalt dort gar nicht so aus als seien sie im Paradies gewesen. Sie erscheinen eher gestresst oder gefoppt.
Die Steuerparadiese aber sind so wie so nur Tummelplätze für Raff und Gier, Geiz und Co.
Und selbst ein nur jenseitiger Himmel, das sog. Himmelreich, ist wohl nur ein Ersatzparadies für das, was auch hier, diesseitig, schon erfahrbar sein müsste.

Solange die Menschen ausgreifen zur Mitte, solange sie sich das Unverfügbare verfügbar machen wollen, anstatt sich von der Mitte ergreifen zu lassen und sich der Mitte selbst zur Verfügung zu stellen, solange verpassen sie das Paradies.

Dabei können wir allerdings letztlich die Mitte gar nicht erreichen. Es ist nur der Versuch, der bereits schadet, und es ist eine ungedeckte Einbildung, die die Menschen auf den falschen Weg treibt. Wir können die Mitte gar nicht wirklich erreichen, denn ein Cherub steht vor dem Tor- sagt der Mythos

Man könnte allerdings auch sagen, dass dann, wenn die Mitte respektiert ist, das Paradies schon begonnen hätte, sich zu verwirklichen. Das Paradies beginnt dann in uns, wenn die Seele bereit ist, respektvoll zu sein. Das ist freilich leichter gesagt als getan.

AMEN

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